Ahnenverlust und Inzuchtkoeffizient

von Raymonde Harland

erschienen in "katzen extra" 5/97

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Fünf-Generationen-Stammbäume (bis zu den Ururgroßeltern) weisen für jedes Tier 30 Vorfahren nach. Häufig sind dies aber nicht 30 verschiedene Tiere, sondern einige der Vorfahren tauchen mehrmals im Stammbaum auf. So ist z.B. die Mutter gleichzeitig auch die Großmutter. An dieser Häufung von gleichen Vorfahren kann man ablesen, daß einige der Vorfahren aus Inzuchtverpaarungen stammen. Zählt man in einem Stammbaum aus, wie viele verschiedene Tiere angegeben sind und setzt dies ins Verhältnis zur Zahl der höchstmöglichen Vorfahren, so erhält man eine Vergleichszahl, die deutlich macht wie ingezüchtet das zum Stammbaum gehörende Tier ist.

Ist z.B. der Vater gleichzeitig der Großvater eines Tieres, liegt also eine Vater X Tochter Verpaarung vor, so sind nicht 30 verschiedene Tiere unter den Vorfahren (bis zu den Ururgroßeltern), sondern es sind nur 23 verschiedene Tiere. 7 Tiere kommen doppelt vor und fallen daher weg. Dies nennt man Ahnenverlust. In diesem Beispiel beträgt der Ahnenverlust 23,3%.

Ahnenverlust bedeutet natürlich auch ein Verlust an Genvielfalt. Das heißt die Tiere haben mehr identische Genpaare, als dies bei der vollen Vorfahrenzahl der Fall wäre. Einerseits ist dies erwünscht, denn so können mehr Merkmale eines Tieres reinerbig weitergegeben werden. Andererseits besteht die Gefahr, dass defekte Gene nicht ausgeglichen werden können, bzw. ebenfalls reinerbig weitergegeben werden. Dies ist der Grund, warum ingezüchtete Tiere besonders kritisch in Zucht- und Liebhabertiere selektiert werden müssen. Genfehler entstehen nicht durch Inzucht, können durch sie aber leicht aufgedeckt werden.

Geht man im Stammbaum eine weitere Generation zurück, so kommt man in unserem Beispiel zu einer Anzahl von 47 verschiedenen Tieren bei 62 möglichen Vorfahren, also einem Ahnen- und Genvielfalt-Verlust von 24,2%. Noch eine Generation weiter zurück steht das Verhältnis bei  95 zu 126 also 24,6% Ahnen- und Genvielfalt-Verlust. In der Praxis genügt es allerdings die ersten fünf Generationen zu berechnen, da frühere Vorfahren einen nur noch sehr geringen Einfluss haben.

Ahnenverlust ist aber auch ein natürliches Phänomen. Bedenkt man , dass jeder Mensch ebenfalls bis zu den Ururgroßeltern 30 Vorfahren besitzt, zur Zeit der Ururgroßeltern ca. 1850 aber keinesfalls 30 mal mehr Menschen als heute auf der Erde lebten sondern weniger als heute, so ist klar, dass viele unserer Vorfahren öfter in unserem Stammbaum vorkommen müssen. Das heißt, je weiter man in einem Stammbaum zurückgeht, umso größer ist der Ahnenverlust. Zwei Menschen aus der gleichen Gegend entdecken also beim Vergleich ihrer Stammbäume spätestens im Mittelalter Verwandtschaften. Da die meisten Katzenrassen aus wenigen Anfangstieren herausgezüchtet wurden, sind auch Katzen einer Rasse alle miteinander verwandt, wenn man in den Stammbäumen nur weit genug zurückgeht. Das heißt, bei allen Rassekatzen gibt es auch einen "natürlichen Ahnenverlust".

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Nun ist der Ahnenverlust-Prozentsatz nur eine Methode der Berechnung. Viel genauer ist die Berechnung mit dem Inzuchtkoeffizienten. Hierbei können auch kompliziertere Verwandtschafts-Verpaarungen berechnet werden.

Die Formel lautet : Fx=å (0,5)hoch n1+n2+1 (1 + FA)

Dabei steht F für den Inzuchtkoeffizienten, x für das Individuum, n1 die Zahl der Generationen vom Vater zum gemeinsamen Vorfahren A und n2 für die Zahl der Generationen von der Mutter zum gemeinsamen Vorfahren A. å ist das Zeichen zur Summierung der Beiträge aller gemeinsamen Vorfahren.

So kompliziert, wie es auf den ersten Blick erscheint ist die Formel jedoch gar nicht. Stellen Sie sich z.B. eine Halbgeschwister-Verpaarung vor

Gingers Stammbaum

Kind Eltern Großeltern
Ginger Agamemnon Falco
Aida
Felicitas Falco
Elektra

Ginger ist das Kind der Halbgeschwister Felicitas und Agamemnon. Beide haben verschiedene Mütter: Elektra und Aida, aber den selben Vater, nämlich Falco. Geht man in Gingers Stammbaum zurück, ist also Falco der erst gemeinsame Vorfahr seiner Eltern. Nun zählt man die Generation von Gingers Vater Agamemnon bis zu seinem Großvater Falco. Ergebnis: eine Generation, also ist n1 =1. Nun zählt man auf der Seite der Mutter von Felicitas bis zu Großvater Falco, das Ergebnis ist ebenfalls eine Generation. Also ist n2=1. Dazu kommt der Faktor 1. Zählt man nun alle Hochzahlen zusammen erhält man 3. Zu rechnen ist also 0,5 hoch 3 , also 0,5 x 0,5 = 0,25 und dies Ergebnis noch einmal x 0,5 Ergebnis: 0,125. In Prozenten ausgedrückt sind dies 12,5 %. Für eine Vater x Tochterpaarung ist n1=0 und n2 = 1 dazu der obligatorische Faktor 1 ergibt 0,5hoch2 also 0,5 x 0,5 das Ergebnis lautet 0,25 das sind 25 %.

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Wenn Sie also bisher dachten eine Rückverpaarung auf ein Elternteil, hätte einen geringeren Genvielfalt-Verlust zur Folge als eine Vollgeschwister-Verpaarung so können Sie jetzt ganz leicht selber errechnen, dass in beiden Fällen der Inzuchtkoeffizient bei 25% liegt. Inkonsequenterweise sind in vielen Zuchtvereinen Rückkreuzungen auf ein Elternteil ohne Weiteres, Vollgeschwister-Verpaarungen nur nach Genehmigung des Zuchtausschusses erlaubt.

Auch komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse können Sie jetzt genau berechnen, indem Sie die Anteile der einzelnen gemeinsamen Vorfahren zusammenziehen. Rechnen wir einmal gemeinsam den Inzuchtkoeffizienten von Amanda aus.

Amandas Stammbaum

Eltern Großeltern Urgroßeltern
Barbarossa David Hallodri
Issy
Elektra Jerry
Kalinka
Cherry Felix David
Elektra
Geraldine David
Luna

Amanda ist als Produkt mehrfacher Inzucht gezüchtet. Der Großvater David väterlicherseits ist zugleich der Urgroßvater mütterlicherseits und das gleich zweimal. Das heißt in der Generation der Großeltern gab es eine Halbgeschwister-Verpaarung nämlich Felix und Geraldine.

Wir müssen also mit David zweimal den Inzuchtkoeffizienten berechnen. Einmal für Barbarossa und Felix und einmal für Barbarossa und Geraldine. Bei Barbarossa liegt David väterlicherseits eine Generation zurück also ist n1 = 1, bei Felix liegt David von Cherry, der Mutter Amandas, aus gesehen zwei Generationen zurück also ist n2 = 2, inklusive des obligatorischen Faktor 1 müssen wir also 0,5hoch4 rechnen. Das Ergebnis ist 0,0625. Bei Geraldine verfahren wir genauso. Wieder ist das Ergebnis 0,0625.

Elektra kommt in Amandas Stammbaum ebenfalls öfter vor. Väterlicherseits ist sie Amandas Großmutter, von Barbarossa also eine Generation entfernt. Mütterlicherseits ist sie Amandas Urgroßmutter und von Cherry zwei Generationen entfernt. Wieder ergibt sich n1= 1 und n2 = 2 also wieder 0,5hoch4 = í (0,5 x 0,5) x 0,5ý x 0,5 = 0,0625. Rechnen Sie nun alle gemeinsamen Vorfahren zusammen ergibt sich 0,18,75. Amandas Inzuchtkoeffizient liegt also bei 18,75 %. In der Tabelle  ist dies noch einmal übersichtlich zusammengefasst.

gemeinsamer Vorfahr n1 n2 Anteil des gemeinsamen Vorfahren
David (für Barbarossa und Felix) 1 2 0,5hoch1+2+1 = 0,5hoch4 =0,0625
David (für Barbarossa und Geraldine) 1 2 0,5hoch1+2+1 = 0,5hoch4 =0,0625
Elektra (für Barbarossa und Felix) 1 2 0,5hoch1+2+1 = 0,5hoch4 =0,0625
Summe                                             0,1875

Wenn Ihnen die Rechnerei zuviel ist, und Sie sich leichter z.B. unter Halb-Cousin zweiten Grades etwas vorstellen können, ist für Sie der Umgang mit der Tabelle B sicher einfacher. Auch hier müssen Sie die Inzuchtkoeffizienten aller gemeinsamen Vorfahren zusammen zählen. 

Verpaarung Inzuchtkoeffizient %
Elternteil X Kind 25,00%
Vollgeschwister 25,00%
Halbgeschwister 12,50%
Onkel X Nichte, Tante X Neffe 12,50%
Großelternteil X Enkelkind 12,50%
Zweifache Cousins ersten Grades 12,50%
4-fache Halbcousins ersten Grades 12,50%
3-fache Halbcousins ersten Grades 9,38%
1-fache Cousins ersten Grades 6,25%
2-facher Cousin ersten Grades X Cousin zweiten Grades 6,25%
2-facher Halb-Cousin ersten Grades 6,25%
1-facher Cousin ersten Grades X Cousin zweiten Grades 3,13%
2-fache Cousins zweiten Grades 3,13%
1-fache Halb-Cousins ersten Grades 3,13%
1-fache Cousins zweiten Grades 1,56%

Es gibt keine allgemeingültige Regel, wann der Inzuchtkoeffizient zu hoch liegt. Bei strenger Selektion können auch ingezüchtete Tiere gesund sein. Zudem liegen aus der Katzenzucht keine genauen Daten vor. Dennoch möchte ich ein Beispiel für die negative Auswirkung eines zu hohen Inzuchtkoeffizienten anführen:

In der Hundezucht (Beagle-Versuchszuchten) hat man festgestellt, dass es bei einem Inzuchtkoeffizienten von 8% bis zu 18 % zu Welpensterben von bis zu 25 % bis zum zehnten Tag nach der Geburt kommt. Bei Inzuchtkoeffizenten, die über 67,3 % lagen, starben 75 % der Welpen bis zu ihrem zehnten Lebenstag.

Allgemeine Anzeichen für einen zu hohen Inzuchtkoeffizienten sind auch: geschwächtes Immunsystem, Missbildungen bzw. Totgeburten, Abnahme von Vitalität und Intelligenz, geringe Wurfgröße und vermehrtes Welpensterben, geringere Körpermasse. Durch rechtzeitiges Einkreuzen von nicht verwandten Tieren, kann man diesen Symptomen begegnen. Es wird nicht nur der Inzuchtkoeffizient gesenkt, sondern es kommt häufig auch zum Heterosis-Effekt, d.h. die Nachkommen übertreffen beide Elternteile an Qualität. Ein willkommener Effekt für jede Zucht.