Drei Beine sind nicht der Weltuntergang

von Raymonde Harland und Marita Stachowiak

erschienen in "katzen extra" 9/1999

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Die Studenten der tierärztlichen Hochschule in Hannover staunen nicht schlecht: heute sitzt ein Somalikater im Hörsaal. Wie alle Somalis präsentiert er sich gerne, auch wenn er nur drei Beine vorzeigen kann. Das Thema der heutigen Vorlesung lautet: ist ein Katzenleben auf drei Beinen lebenswert? Und der Kater doziert:
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Hallo, mein Name ist Geronimo, gerufen werde ich aber meistens Momo. Mein Mensch meint, ich wäre ein aufdringlicher, penetranter und arroganter Somali. Sie überläßt es mir, diese Geschichte zu erzählen. Sie selber würde doch wieder in Tränen ausbrechen, wenn sie an die vielen Schmerzen denkt, die sie mir am liebsten abgenommen hätte.

Es fing alles damit an, daß ich als Halbwüchsiger ein neues Zuhause bekam mit einem Garten in einer ruhigen Gegend. Schon bald machte ich meinem neuen Menschen klar, daß Spaziergänge das Schönste für mich sind. Die erste Zeit begleitete sie mich und beobachtete, wie ich mich verhalte. Ich ließ mich von Fremden nicht ansprechen und diesen stinkenden Blechkarossen ging ich schleunigst aus dem Weg. Wenn mein Mensch mich rief, oder mit der Hundepfeife nach mir pfiff, machte ich mich schleunigst auf den Weg nach Hause, obwohl es oft sehr, sehr schwer fiel, denn es gab so Vieles zu entdecken.

So ging es viele, viele Monate! Ich erfreute mich meines Lebens und machte täglich meinen ausgiebigen Spaziergang, abends war ich dann zu Hause. Hin und wieder packte man mich ein und wir fuhren mit dem Auto zu einer Ausstellung. Ich liebe es, die Aufmerksamkeit aller Menschen auf mich zu ziehen!
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Dann aber kam der 27. Dezember, grau, verregnet, kalt. Dieser Tag sollte mein Somalileben drastisch verändern. Ich tobte gerade über die Wiesen, als ich den Pfiff der Hundepfeife hörte, der mich nach Hause rief. Wie viele Male war ich diese Strecke schon gerannt. Also stürmte ich los, aber was war das? Etwas traf mich mit voller Wucht und ich flog einige Meter durch die Luft. Ich wußte gar nicht, wie mir geschah. Auf der Pferdekoppel landete ich unsanft. Oh, was tat denn da so weh? Ich wollte nur noch nach Hause, aber irgendwie wollten meine Hinterpfoten nicht das machen, was ich ihnen befahl. So mußte ich versuchen nach Hause zu kriechen, aber das funktionierte auch nicht so recht. Ich beschloß, nach Hilfe zu rufen. Ich hatte wohl einen ganz besonderen Schutz-Engel, denn zwei Mädchen fanden mich. Sie waren auf dem benachbarten Feldweg mit ihren Inline-Skatern unterwegs. Als sie mich hörten, zogen sie diese aus und kletterten auf Socken über den Zaun, um mir zur Hilfe zu kommen. Da ich die Menschen sehr liebe und Vertrauen zu ihnen habe, machte ich auch keine Anstalten mich zu wehren. Eines der Mädchen lief los und holte ganz schnell einen Korb in den sie mich dann legten. Auf dem schnellsten Weg brachten sie mich zu meiner Tierärztin. Falls diese Mädchen meine Geschichte hören, möchte ich meinen Retterinnen auf diesem Wege noch einmal ganz herzlich danken. Ohne Euch wäre wohl alles noch viel schlimmer geworden.

Gott sei Dank erkannte die Tierärztin mich. Sie rief gleich meinen Menschen an! Diese kam sofort und als sie mich sah, fing sie fürchterlich an zu weinen. Ich bot einen ganz erbärmlichen Anblick. Naß, schmutzig und das Schlimmste war, ich konnte meine Hinterpfoten nicht bewegen. Die Ärztin hat mich geröntgt und die Diagnose lautete: rechte Unterpfote mehrmals gebrochen, linke Hüfte ausgekugelt. Ob eine bleibende Lähmung vorliegt, konnte sie in diesem Moment nicht sagen. Ich mußte die Nacht bei der Tierärztin verbringen. Das war für mich das Allerschlimmste, denn am liebsten schlafe ich doch im Bett von meinem Menschen. Diese holte mich am nächsten Morgen ab und fuhr mit mir eine Stunde durch die Gegend. Wohin wußte ich nicht, ich war nur froh, daß sie in meiner Nähe war. Am Ziel angekommen, mußte ich feststellen, daß es schon wieder ganz verdächtig nach Arzt roch. Mein Mensch beruhigte mich, und versprach mir, daß mir dort geholfen werden konnte. Nochmals wurde ich geröntgt. Es wurde festgestellt, daß die Lähmung durch eine Prellung ausgelöst wurde und daß sich die Hüfte wieder von selbst eingerenkt hatte.
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Mein Mensch atmete auf. Wir beide dachten, daß nun alles nicht mehr so schlimm sein könnte. Eine gebrochene Hinterpfote kann man ja wieder richten. Am nächsten Tag legte der Doktor mich schlafen. Hinterher erfuhr ich, daß ich operiert wurde. Nun hatte ich eine Platte im Bein, an der die gebrochenen kleinen Knochen festgeschraubt wurden. Vier Stunden hatten die Ärzte dafür gebraucht. Nach der Operation wollte ich aber gar nicht so richtig aufwachen, denn ich war alleine und ich kannte diese vielen fremden Menschen nicht. Ich dachte, mein Mensch hätte mich verlassen. Als sie aber hörte, daß es mir nicht so gut geht, hat sie mit der Tierärztin gesprochen und sie hat mich dann ganz schnell abgeholt. Auf der Autofahrt habe ich ihr dann erstmal alles erzählt, was ich in den drei Tagen erlebt hatte. Ich erzählte es mit Nachdruck und sehr vorwurfsvoll, denn wie konnte sie mich einfach alleine lassen!

Nun wurde ich gehegt und gepflegt und ich war heilfroh wieder bei meiner Familie zu sein. Es war mittlerweile Sylvester und mein Mensch wich nicht von meiner Seite. Ein paar Tage später mußte ich wieder zum Arzt. Ich hatte Schmerzen und mein Bein war ganz heiß. Der Anblick der sich da zeigte, ließ meinen Menschen ganz blaß werden: Die Operationswunde hatte sich entzündet und die Nähte waren dadurch aufgegangen. Meinem Menschen wurde erklärt, daß sich durch den offenen Bruch Bakterien gesammelt hatten. Diese Bakterien lösten jetzt die Entzündung aus. Hinzu kam noch, daß ich diese Platte in meinem Bein einfach nicht haben wollte. Es folgte eine Zeit des Tablettennehmens, der Wundwaschungen und des Verbandswechsels. Ich ließ alles über mich ergehen, denn ich hatte Vertrauen zu meinen Menschen. Ich wußte, daß sie nur das Beste für mich wollten .Sie hatten mir sogar Gesellschaft besorgt, eine entzückende kleine Maine Coon Lady. Sie lenkte mich von meinen Schmerzen und meinen Kummer ab.

Die Wunde wollte und wollte nicht heilen. Ich mußte wieder in die Tierklinik. Mittlerweile waren drei Monate vergangen und wir hatten die Hoffnung, daß die Platte entfernt werden kann. Dann würden sich die Wunden schließen. Aber die Röntgenaufnahme ließ die Hoffnungen platzen: Durch die ständige Entzündung, der man nicht Herr werden konnte, hatte der Knochen angefangen sich abzubauen. Jetzt sollte gesundes Knochenmark aus dem Schultergelenk den Kochen wieder stärken. Aber nachdem ich in Narkose lag, und die Ärzte die Platte entfernt hatten, stellten sie fest, daß dort nichts mehr zu retten war. Alle mußten nun in den sauren Apfel beißen: Mir mußte die Pfote amputiert werden! Der Arzt sprach lange mit meinem Menschen. Er erklärte ihr, daß sie versuchen wollten, den großen Ballen zu transplantieren, damit ich mich damit aufstützen kann. Gesagt getan, diesmal mußte ich 10 Tage an diesem, für mich so fürchterlichen Ort, bleiben. Der Ballen ist leider nicht angewachsen. Aber diesmal heilte die Wunde schneller. Ich wollte ja auch wieder nach Hause.

Nun mußte ich mich daran gewöhnen auf dreieinhalb Beinen durchs Leben zu laufen. Nach ein paar Anfangsschwierigkeiten gelang mir das auch ganz gut. Ein Übel war, daß ich mir die amputierte Pfote hin und wieder an der Treppenstufe stieß. Das war sehr schmerzhaft. Mein Mensch war in der ganzen Zeit sehr um mein Wohl bemüht. Als sie merkte, das es so nicht so richtig ging, hat sie sich nochmals bei einigen Tierärzten schlau gemacht, wie mir denn geholfen werden kann. Alle sagten, daß es das Beste sei, wenn ich nochmals operiert werde und mir meine Hinterpfote oberhalb es Kniegelenkes abgenommen wird. Zuerst hatte mein Mensch Zweifel, ob eine erneute Operartion die richtige Entscheidung wäre, doch dann stimmte sie zu und heute ist sie froh darüber. Auch diese Operation ließ ich über mich ergehen. Nachdem alles verheilt war, kam ich mit meiner Behinderung bestens zurecht.
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Dies ist nun alles schon ein paar Jährchen her und ich erfreue mich heute bester Gesundheit und genieße mein Somalileben. Mittlerweile ist viel Leben in der Bude, da noch ein paar Coonies hinzugekommen sind. Mit denen vertrage ich mich aber bestens. Ich habe nun nicht mehr das Privileg, durch die Felder zu ziehen. Mein Mensch hat viel zu viel Angst, daß so etwas noch einmal passieren könnte. Somit gibt es nur die gesicherte Terrasse als Freilauf. Aber ich bin ja ein schlauer Somali und ein aufgewecktes Kerlchen. Jede Gelegenheit die sich ergibt, nutze ich, um wieder die große Freiheit zu erlangen. Ich gehe dann in der Nachbarschaft nach dem Rechten schauen und treffe mich mit den Kumpels. Das ich nur drei Beine habe, stört mich überhaupt nicht, denn ich bin immer noch sehr flink, kann klettern und rennen, und manchmal erwische ich auch wieder eine Maus. Die schenke ich dann meinem Menschen.

Was mich stört ist, daß ich nicht mehr mitgenommen werde zu den Ausstellungen. Ich habe das Bad in der Menge doch sehr genossen. Zum Schluß möchte ich allen Katzenfreunden und Tierärzten ans Herz legen „drei Beine sind nicht der Weltuntergang“, aber gebt meinen Artgenossen sicherheitshalber nur gesicherten Auslauf!