Auch ohne Zähne hat das Leben noch Biss

von Raymonde Harland

erschienen in "katzen extra" 12/1999

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Die ersten drei Jahre seines Lebens verbrachte Tommi im "Paradies", auch wenn es ihn alle Zähne kosten sollte.

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Die alte Dame, die den schwarz-silber-getigerten Hauskater mit den weißen Beinen in ihrem Haus aufgenommen hatte, verwöhnte ihn nach Kräften. Leider verstand sie von gesunder Katzenernährung nichts. Alle ihre Katzen hatten die Reste vom Tisch und gelegentlich Schlachtabfälle bekommen, so hielt sie es auch bei Tommi. Es schien ihm zu schmecken, er fraß besonders gerne Kuchen mit viel Buttercreme, und so kaufte sie bald ein Stück extra nur für ihn, wenn ihre Freundinnen zum Kaffeeklatsch kamen.

Als gewissenhafte Hauskater-Besitzerin, ließ sie Tommi früh kastrieren. Danach wurde er immer runder und runder, bis ihm das Gehen schwer fiel. Auch um die Gesundheit der alten Dame stand es nicht gut und so bemerkte sie nicht, daß Tommys Zähne zu faulen begannen. Nach ihrem Tod, als Tommi ins Tierheim kam, konnte der Tierarzt nichts mehr tun, als alle Zähne zu ziehen. Für Tommi war es ein großer Schock: sein Mensch war nicht mehr da - und dann verlor er auch noch alle Zähne! Nur langsam gewöhnte er sich an den Zustand, das einzig Gute daran war, daß er keine Zahnschmerzen mehr hatte.

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Tommi ging den anderen Katzen so gut es ging aus dem Weg. Er war ein gutmütiger Kater, der jedem Streit auswich, jetzt als zahnloser Tiger erst recht. Jeden Tag kamen Menschen, um sich eine Katze auszusuchen, aber niemand wollte etwas von ihm wissen. Meistens beachteten sie ihn in seiner Ecke gar nicht. Nach endlosen Monaten wollte eine Familie mit zwei Kindern es mit ihm versuchen. Sie fanden es gut, daß er keinen einzigen Zahn mehr hatte, denn so mußten ihre Kinder keine Angst vor Bißen haben.

Die Rechnung der Eltern ging nicht auf. Ein Kater ist eben kein Spielzeug für Kinder! Als Tommi in ein Puppenkleid gezwängt werden sollte, kratzte er. Umgehend brachten sie ihn ins Tierheim zurück. Tommi war es recht, hier zog ihn wenigstens niemand am Schwanz. Wieder verging eine lange Zeit bis sich jemand für ihn interessierte. Diesmal schienen die Voraussetzungen ideal: ein kinderloses Ehepaar wollte ihn adoptieren, die Frau war den ganzen Tag zu Hause. Tommi lebte sich schnell ein, obwohl er vom ersten Tag an auf Diät gesetzt wurde. Nach ein paar Wochen bekam er wieder Figur und die Lust am Rumtoben und Spielen wurde größer. Ausgelassen verwandelte er die Wohnung in eine Rennbahn. Von der Haustür durch den Flur, ins Wohnzimmer, auf das Ledersofa, ein Stück die Tapete rauf - und wieder zurück. Die Menschen schrien ihn an und tobten vor Wut. Kleinlaut versteckte er sich - aber er wurde hervorgezerrt und wieder ins Tierheim zurück gebracht. Als die Menschen etwas von Allergie erzählten, glaubten ihnen die Pfleger nicht, trotzdem nahmen sie Tommi zurück.

Der Kater begrüßte die Pfleger, hier kannte er sich aus. Die Pfleger mochten Tommi nicht wieder ins große Gehege bringen. Der Tierarzt hatte bei seiner Eingangskontrolle versteifte Nackenwirbel festgestellt. Tommi durfte jetzt im Büro des Tierheimes wohnen, er galt als nicht mehr vermittelbar.

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Die Jahre vergingen, 10 Jahre war der Kater jetzt schon alt. Er hatte es aufgegeben sich immer wieder an neue Menschen zu binden, denn die Angestellten wechselten häufig. Wenigstens die Umgebung blieb dieselbe, so saß er in der hintersten Ecke des Büros und verträumte die Zeit.

Eigentlich hatte das junge Paar nicht so schnell wieder eine Katze dazuholen wollen. Es war erst wenige Tage her, daß ihr Kater eingeschläfert werden mußte und die Tränen saßen noch locker. Der andere Kater, der bei ihnen wohnte, war seit dem Tod seines Freundes völlig apathisch, fraß nicht mehr und trauerte noch mehr als seine Menschen. So kam es, daß sie im Tierheim nach einem Kater suchten. Er sollte schon älter sein, gutmütig und keine Angst vor anderen Katzen haben. Im Büro des Tierheimes brachten sie ihre Wünsche vor. Tommi hörte die freundliche Stimme der Frau, sie erinnerte ihn an ein längst vergangenes Paradies. Er hob den Kopf, er sprang vom Stuhl und wackelte langsam auf das Paar zu. Der Mann sah ihn zuerst, er stieß seine Frau an: Es war Liebe auf den ersten Blick - dieser Kater sollte es sein. Trotz - oder wegen - seiner fehlenden Zähne, seiner steifen Wirbel, seines Übergewichtes und seiner entzündeten Augen.

Tommi war sehr mißtrauisch, als er in einen Transportkorb gesetzt wurde. Äußerst vorsichtig stieg er in seiner neuen Wohnung aus, äußerst vorsichtig beschnupperte er die neue Umgebung. Es roch nach fremden Kater, nach einem traurigen fremden Kater - Freund oder Feind? Der fremde Kater lag auf einer Decke und rührte sich nicht. Tommi faßte sich ein Herz und leckte ihm über das Ohr. Der Fremde schreckte hoch und sprang erst einmal rückwärts - Tommi tat es ihm nach. Dann kamen sie langsam wieder aufeinander zu. Die Menschen schauten gebannt zu. Ein Nasenküßchen machte klar: hier hatten sich zwei Freunde gefunden! Die Menschen strahlten und Tommi kam es vor, wie im Paradies.

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Leider starb Tommys neuer Freund nach einem Jahr. Seine Menschen kauften eine kleine silbergetigerte Maine Coon, die schnell Freundschaft mit ihm schloß. Tierheimkatze und Rassekatze - ihren Menschen sind sie beide gleich lieb. So hat das Leben für Tommi auch ohne Zähne noch Biß.